Ab wann ist eine Sprache tot?
„Si tacuisses, philosophus mansisses.“ ist mein lateinischer Lieblingsspruch. Es ist zumindest derjenige, den ich häufiger mal im Gespräch anbringe. Aber selbstverständlich gibt es noch mehr: „Gaudeamus igitur …“, „Alea iacta est.“, „Veni, vidi, vici!“ oder „Cogito ergo sum.“ Das sind nur einige lateinische Sprüche und Verse, die auch heute noch immer wieder gern zitiert werden. Trotzdem wird die Sprache gern als „tot“ bezeichnet. Grund dafür ist, dass sie vielleicht noch von ein paar Klerikern im Vatikanstaat benutzt wird, es jedoch kein anderes Land der Welt gibt, in dem die Sprache als Ganzes heutzutage aktiv gesprochen wird. Ist Latein aber wirklich tot oder ist es gar eine Sprache für Angeber?
Latein ist überall
Ich selbst habe während meiner Schulzeit das große Latinum gemacht, aber wirklich hängengeblieben ist nach weit über dreißig Jahren nicht mehr viel. Ich finde das schade, obwohl die Schuld daran zu großen Teilen auch an mir liegt. Denn die Sprache läuft einem ja andauernd über den Weg. Wann immer man über eine Wortherkunft nachdenkt, kommt man sehr häufig an Latein nicht vorbei. Allgegenwärtige Begriffe wie Zirkus (von circus – der Kreis), Körper (corpus) oder das für den Lektor wichtige Korrektorat (von corrigere – korrigieren, verbessern) besitzen einen lateinischen Ursprung. In der Medizin, Pharmazie, Zoologie und Botanik ist die alte Sprache allgegenwärtig. In Kirchen, auf Grabsteinen oder an historischen Gebäuden findet man oftmals lateinische Inschriften und irgendwie will man ja doch wissen, was da nun genau steht, oder nicht?

Prahlerei oder echte Bildung?
Menschen, die als besonders schlau gelten wollen, lassen gern einen Spruch los, den man sich aus der Schulzeit gemerkt oder bei Asterix gelesen hat. Die oben angefangene Liste ist bei weitem nicht vollständig. Sie ließe sich endlos fortsetzen. Von „Carpe diem.“ über „In vino veritas.“ bis zu „Homo hominem lupus est.“ findet man immer einen Anlass, mit humanistischer Bildung zu prahlen.
Die Frage, die sich mir stellt: Ist Latein wirklich eine „tote“ Sprache? Ich finde, sie ist zumindest nicht mausetot. Ob sie weiterhin in der Schule unterrichtet werden sollte, steht auf einem anderen Blatt. Ich war damals hin- und hergerissen, besonders was die Lernmethodik anging. Lateinunterricht bestand aus Grammatikunterricht und dem Lesen und Übersetzen von alten Texten. „De Bello Gallico“ lässt grüßen. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir die „Hannibal-Vita“ von Cornelius Nepos. Damals hieß es, die Sprache sei logisch aufgebaut. Wer gut in Mathe sei, sei auch gut in Latein. Das wäre vielleicht anders gewesen, wenn in der Unterrichtsgestaltung auch freies Sprechen einen gewissen Raum eingenommen hätte. Rückblickend wäre das sicherlich ein spannenderer Unterricht gewesen, aber ich hätte wahrscheinlich schlechtere Noten gehabt, denn ich war gut in Mathe (sic!).
Eine aktiv gesprochene Sprache zu lernen, mit der man in vielen Teilen der Welt kommunizieren kann, erscheint in der heutigen Zeit jedenfalls sinnvoller. Und Fremdwörter lateinischer Herkunft kann man sich auch mit weitverbreiteten romanischen Sprachen wie Französisch oder Spanisch herleiten.

Übungsbeispiel
Abschließend zwei Beispiele von lateinischen Inschriften, die mir in den letzten Jahren bei Reisen und Ausflügen untergekommen sind. Die erste Inschrift stammt von einem Kreuz, welches in Osnabrück in der Nähe des Großsteingrabs Karlsteine an der Straße steht. Sie lautet: „Hoc loco Caroli Magni temporibus primam in hac regione missam celebratum traditum est.” Die Übersetzung wird auf einer nebenstehenden Infotafel gleich mitgeliefert. „An dieser Stelle wurde zu Zeiten Karls des Großen, wie von alters her überliefert ist, die erste Messe in dieser Gegend gefeiert.“
Interessant ist hier schon zu sehen, wie Latein ohne Punkt und Komma verwendet wird. Die Sätze sind tief verschachtelt. Es wird viel mit Partizipien gearbeitet. Noch schlimmer ist diese Praxis bei der zweiten Inschrift zu beobachten, die in Salzburg in den Katakomben des Petersfriedhofs hängt.
Auch „Lateiniker“ machen Fehler
„Anno domini CCCC LXXVII Odoacer rex Rhutenorum Geppidi Gothi Ungari et Heruli contra ecclesiam die sevientes beatum Maximu(m) cum sociis quinquaginta in hoc speleo latitantibus ob confessionem fidei trucidatos precipitarunt Noricorum quoque provinciam ferro et igne demoliti sunt.“
Eine die Verschachtelungen entzerrende Übersetzung lautet in etwa: „Im Jahr des Herrn 477 wüteten Odoaker, König der Rhutenen, die Gepiden, die Goten, die Ungarn und die Heruler gegen die Kirche Gottes. Sie schlachteten den seligen Maximus mit seinen fünfzig Gefährten, die sich in dieser Höhle versteckt hielten, wegen des Bekenntnisses des Glaubens ab und stürzten ihn in die Tiefe. Und sie zerstörten mit Eisen und Feuer die Provinz der Noriker.“ Als Randnotiz sei hier angemerkt, dass die Inschrift im 16. Jahrhundert angebracht wurde und wohl voller historischer Unwahrheiten ist. Es gibt außerdem unterschiedliche Übersetzungen. Eine davon besagt, dass sich Maximus selbst in die Tiefe gestürzt hat. In Anbetracht der Tatsache, dass er mit seinen Gefährten vorher abgeschlachtet wurde („trucidatos“), halte ich das aber für unwahrscheinlich.

Lateinische Prahlerei in eigener Sache
Ganz zum Schluss noch ein Hinweis darauf, dass Latein für mich persönlich nicht vollkommen tot ist. Ich habe nämlich in meinem Roman „Die Drachenverschwörung“ an prominenter Stelle einen lateinischen Satz untergebracht. Die Leiche eines Mordopfers wurde mit grüner Schrift bemalt. Der aufgetragene Schriftzug lautet: „Etiam dracones morituri sunt.“ Die Übersetzung überlasse ich euch.

Ich bin freiberuflicher Ghostwriter und Lektor für Texte vom Roman über die Biografie und den Blogbeitrag bis zum Sachbuch oder Werbetext. Außerdem betätige ich mich als Coach für wissenschaftliches Arbeiten. Als promovierter Naturwissenschaftler (Chemiker) sind mir Struktur und Genauigkeit bei Texten aller Art wichtig. Aus meiner 20jährigen Berufserfahrung als Führungskraft und Projektleiter in der High-Tech-Industrie, die zeitweise auch Marketing-Aufgaben beinhaltete, weiß ich: Es braucht immer auch Storytelling, um eine Zielgruppe für ein Thema zu interessieren.